Neue Hochrechnungen der BARMER zeigen, dass in knapp zehn Jahren deutlich mehr Pflegebedürftige versorgt werden müssen, als bislang angenommen.
Zugleich vergrößert sich damit der Bedarf an Pflegekräften sprunghaft. Der neue BARMER-Pflegereport bietet auf Basis jüngster Hochrechnungen einen aufrüttelnden Blick in die Zukunft der Pflege in Deutschland.
Das waren sinngemäß die einleitenden Worte gestern zur virtuellen Pressekonferenz der BARMER Versicherung.
Prof. Dr. Christoph Straub Vorsitzender des Vorstandes, BARMER und Prof. Dr. Heinz Rothgang SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung, Uni Bremen, stellten den diesjährigen Pflege-Report 2021 vor.
Gerade haben wir intensiv die pflegerelevanten Passagen des Koalitionsvertrages gelesen und uns über die eine oder andere kurzfristige Verbesserung gefreut, da muss man in Anbetracht der jetzt offengelegten drastischen Korrektur zur aktuellen BMG-Prognose fragen, ob die Ampel nicht dringend auch gravierende, strukturelle Reformen für das kommende Jahrzehnt anschieben sollte. Und dies nicht morgen, sondern eher heute.
Prognose von drei Szenarien
Auf Basis der jüngsten Daten zur Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland und den sich veränderten Prävalenzen (Anteil der erkrankten Personen an der Gesamtbevölkerung) bei der Pflegebedürftigkeit, wurden vom Autorenteam der Studie verschieden Szenarien entwickelt.
Die nachfolgende Tabelle zeigt einen Überblick über diese drei Basis-Szenarien. In der Infografik werden die Ergebnisse der ausgewogenen, mittleren Variante dargestellt.
Das Problem ist: Für die Sorgenden und Pflegenden Angehörigen (SPA) gibt es auch nach 26 Jahren Pflegeversicherung keine regelmäßigen und fundierten statistische Daten. Und wo keine Daten vorhanden sind, da sind auch keine Analysen vorhanden und damit dann auch keine Strategien und Konsequenzen (nötig).
Bisher hat es keine Bundesregierung gewagt, das Thema SPA ernsthaft anzugehen. Warum? Ganz einfach, weil es Geld kosten würde.
Der Demografische Wandel macht bei den Familien nicht halt
So kommen wir aber nicht weiter. Die von der BARMER jetzt dankenswerterweise vorgelegte Projektion der Pflegerealität 2030 schreit nach Maßnahmen, verlangt nach einer langfristigen strategischen Antwort, die von der zukünftigen Gesundheitsministerin oder dem Gesundheitsminister heute und nicht morgen eingeleitet werden muss. Über den Pflegenotstand 2030 entscheidet die 20. Legislaturperiode
Und bei dieser notwendigen strategischen Antwort muss eben auch berücksichtigt werden, dass es vollkommen unrealistisch ist zu glauben, dass die heutige Versorgungsstruktur sich prozentual einfach so verschieben lassen könnte.
Die Infografik zeigt, das stärkste Wachstum mit 27 % erfährt die von Sorgenden und Pflegenden Angehörigen abgesicherte häusliche Versorgung (insbesondere Pflegegeld- und Kombinations-Empfänger).
Die spannende Frage ist: wo sollen diese Angehörigen alle herkommen?
Die jetzt an die Pflegereform 2017 bedingte Veränderung angepasste Prävalenz der Pflegebedürftigkeit ist nur eine Seite der Medaille (ein Prozess, der aufgrund der Nachwirkungseffekte erst nach fünf Jahren abgeschlossen sein wird und in der Projektion berücksichtigt ist).
Die andere Seite der Medaille teilen sich die drei Dimensionen:
- Singularisierung der zukünftigen Pflegebedürftigen
- Abnahme von Mitbürgerinnen und Mitbürger im erwerbsfähigen Alter
- Genereller Wandel des familiären Settings (Stichwort Emanzipation und Mobilität)
An dieser Stelle heute nur zwei Grafiken, die diese Problematik verdeutlichen
Ich empfehle hier einen Paradigmenwechsel in der „Denke“ der häuslichen Versorgung.
SEA – Ein möglicher Lösungsansatz
Hierfür wurde das Konzept der SEA entwickelt. SEA steht für Sorgende ErsatzAngehörige. In wenigen Worten lässt sich die Konzeptidee grob wie folgt beschreiben:
- Sorgende und Pflegende Angehörige (SPA) sind das Rückgrat der Langzeitpflege in Deutschland.
- Diese Menschen erarbeiten sich „on the Job“ ein gewisses Kompetenzniveau für Pflege – und setzen diese Fähigkeiten durchaus auch gerne ein.
- Wenn die gepflegten Angehörigen aus der familiären Versorgung austreten (ca. 600.000 jährlich!), ist ein Teil der SPA erleichtert und will das Kapitel Pflege hinter sich lassen. Ein anderer Teil würde aber gerne seine Kompetenzen außerhalb der Verwandtschaftsbeziehung weiter einsetzen – wenn es dafür eine Struktur und eine (finanzielle) Motivation gäbe.
- Diese Ressource ist weitgehend ungenutzt und das können wir uns angesichts eines doppelten demografischen Effektes aus mehr Pflegebedürftigen (6 Mio.) und weniger erwerbstätiger Bevölkerung nicht leisten.
- Deshalb müssen motivierte SPA die Chance bekommen, sich während ihres aktiven sorgenden und pflegenden Wirkens in der eigenen Familie begleitend für die Aufgaben der Sorgende ErsatzAngehörige (SEA) zu qualifizieren.
- Es muss eine bundesweit einheitliche Struktur aufgebaut werden, um den Versorgungsprozess mit maximaler Effizienz und Effektivität zu organisieren.
Die nachfolgende Grafik skizziert die perspektivische Versorgungs-Struktur, die durch folgende maßgebliche Veränderungen geprägt sein wird.
- Wenn bei deutlich weniger Menschen im berufsfähigen Alter das heutige Beschäftigungsniveau in der ambulanten und stationären Pflege gehalten werden kann, ist das schon eine Herkulesaufgabe. Zu befürchten ist, dass eher weniger Arbeitskräfte zu Verfügung stehen werden.
- Auch bei den SPA wird es zu einer Reduktion der verfügbaren Unterstützer kommen, die ausschließlich eigene Familienmitglieder umsorgen, betreuen und pflegen können.
- Die jetzt von der Ampel-Koalition geplanten Lohnersatzleistungen sind nur ein erster Schritt hin zu einer gänzlich neuen Struktur des Pflegegeldes und der finanziellen Organisation der familiären Pflegesettings
Ein Pool von über die kommenden sieben Jahre ab 2023 aufgebauten SEA-Unterstützer/innen übernimmt sukzessive Aufgaben außerhalb der eigenen Familie. Ein sektorenübergreifendes Interagieren der SEA führt zu einer gravierenden Entlastung der professionell Pflegenden.
Wir unterstützen gern die zukünftig für die Pflegepolitik verantwortlichen Menschen im Bundesgesundheitsministerium bei der Entwicklung von Strategien und Maßnahmen, um die gestern von der BARMER aufgezeigte Prognose: „Deutschland steht womöglich vor einem Pflegenotstand bislang ungeahnten Ausmaßes“ begegnen zu können.
Viele Grüße
Ihr Hendrik Dohmeyer
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Warum gibt es noch immer kaum Fortschritt bei der Entwicklung von PflegeRobotern die Pflegeunterstützungsleistungen umfänglich erbringen oder gibt es Sie und die Verantwortlichen nutzen diese Option einfach — warum auch immer —nicht ??? Mein Sohn 30 J Pflegegrad 5 ist begeistert wenn sein Bruder der bei der TU Robotik unterstützt und begleitet einen von den kleinen Nützlingen mitbringt😉 mit der passenden Programmierung könnte das sehr zu meiner Entlastung beitragen.