Babyboomer Sandwicheffekt

Mai 30, 2024 | Pflegepolitik, Pflegeversicherung, SGB XI, Statistik | 0 Kommentare

Moin!

Existiert tatsächlich der Karl-Lauterbach-Babyboomer-Sandwicheffekt?
Mit Jahrgang 1962 gehöre ich selbst zur Speerspitze der Boomer Generation. 😉

Es ließ mir gestern einfach keine Ruhe.

Kurzerhand habe ich mir daraufhin die aktuell veröffentlichen Daten zur Geschäft-Statistik der Pflegekassen angeschaut, um eine erste Antwort zu finden.

Was unzweifelhaft außer Frage steht, ist, dass wir 2023 kein explosives Wachstum bei der Pflegebedürftigkeit in Deutschland erfahren haben. Es ist eine seit vielen Jahren bekannte und konsequente Fortschreibung der demografischen Entwicklung unserer älter werdenden Gesellschaft. Siehe hierzu auch mein Blog-Beitrag „Überraschende Entwicklung der Pflegebedürftigkeit in Deutschland?

Interessant im rnd-Interview von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist aber die Aussage:

„Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir einen Sandwicheffekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.“

Beschreibung des Bildes 

Prof. Dr. Heinz Rothgang

Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen sagte laut einem Beitrag der Plattform EU-Schwerbehinderung zur Lauterbachschen Sandwitsch-Theorie folgendes Zitat:

 

Realistischerweise müsse derzeit pro Jahr mit einem Anstieg in der Größenordnung von 250.000 Pflegebedürftigen gerechnet werden. Dass das Plus nun höher ausgefallen ist, könnte nach Ansicht des Wissenschaftlers mit der Corona-Pandemie zu tun haben. „Es ist denkbar, dass Long-Covid und psychologische Spätfolgen der Pandemie zu einer höheren Zahl von Pflegefällen geführt haben. Beweise dafür gibt es aber nicht“. Den von Lauterbach angeführten „Sandwicheffekt“ mit Pflegebedürftigen in zwei Generationen hält Rothgang für unplausibel. „Zwar könne es einige Babyboomer geben, die bereits pflegebedürftig seien. Eine relevante Größenordnung von Pflegebedürftigen gebe es in dieser Altersgruppe aber nicht, so der Wissenschaftler.“

Kommen wir zur eigenen Analyse der aktuell verfügbaren Daten.

Bei der soziodemografischen Analyse vergleiche ich in der Grafik „Existiert ein Boomer-Effekt?“ die Struktur der altersbedingten Pflegebedürftigkeit. Auf Basis der Daten der Geschäftstatistik der Pflegekassen aus den Jahren 2019 und 2023 können wir die prozentuale Verteilung der Pflegebedürftigen in fünf Jahres Abständen darstellen. Alle Berechnungen finden Sie unten auf dieser Seite in tabellarischer Form.

Und in der Tat können wir hier einen ersten Anstieg der verstärkten Ausprägung zusätzlicher Pflegebedürftiger in der Kohorte der Geburtenjahrgänge 1946 bis 1964 feststellen, die klassisch als Babyboomer-Genration bezeichnet wird. Bei den im Jahr 2023 60- bis 75-Jährigen zeichnet sich ein stärkeres Wachstum gegenüber der Verteilungsstruktur von 2019 ab, als dies in anderen Alterssegmente stattgefunden hat. Dies wird unten anhand der indexierten Wachstumssteigerungen ebenfalls deutlich.

Gleichzeitig verschiebt sich die Spitze des Eisberges leicht in die Jahrgänge 85 bis 89 Jahre.

Einen weiteren sehr deutlichen Anstieg können wir im Vergleichszeitraum bei den Kindern bis unter 15 Jahren feststellen. Allein in diesem Segment kamen fast 100.000 pflegebedürftige Kinder in der Statistik hinzu. Und auch die etwas älteren Jugendlichen bis unter 20 Jahre verzeichnen ein starkes Wachstum. Auch hier muss die Politik ein verstärktes Auge auf die Bedürfnisse der betroffenen Familien haben.

Wozu ist der Aufschlag des Gesundheitsministers gut?

Wenn man der ganzen Aufregung, die mit dem Interview erzeugt wurde, etwas Positives abgewinnen möchte, dann ebendiese dringend notwendig Aufmerksamkeit, die nun medial auf das gesellschaftspolitisch so essenzielle Thema für die nächste Legislaturperiode gelenkt wurde.

Sehr, sehr schade aber, dass mit dem Eingeständnis der Handlungsunfähigkeit bis zum Ende der Ampel so viel wichtige Zeit verschenkt wurde ;-(.

Zitat Karl Lauterbach:

„Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein. Dafür liegen die Ansichten zu weit auseinander. Im Übrigen würde dafür auch die verbleibende Zeit nicht reichen. Die Arbeit der Arbeits­gruppe ist aber eine gute Grundlage für eine große Pflegereform in der nächsten Wahlperiode. Dann muss sie aber auch kommen.“

Mein Fazit

Vorab: ich bin kein Wissenschaftler. Und auch kein Mathematik- oder Statistik-Experte. Als Pflegeberater mit mehreren Tausend Beratungseinsätze in den vergangenen Jahren registriere ich im Segment der Boomer-Generation tatsächlich einen wachsenden Anteil bei meinen Kunden. Das kann Zufall sein und auch dadurch, dass ich zu 90 % digitale Beratungseinsätze durchführe, begründet sein.

Die statistisch dokumentierte starke Ausprägung im Alterssegment von 60 bis 75 Jahren und meine persönlichen Erfahrungen signalisieren mir bereits, dass wir als Boomer-Generation schon jetzt die Treiber sind. Wir werden den Anstieg der Pflegebedürftigkeit in den kommenden Jahren erheblich mitverursachen. Der damit verbundene Bedarf wird ebenfalls nicht unwesentlich steigen.

Dieser Trend ist jedoch auch aufgrund eines weiteren Aspektes von den pflegepolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen. Wie ich selbst seit über 16 Jahren, betreuen, versorgen und pflegen viele der Boomer Generationen tatsächlich ihre Eltern. Somit wächst in den nächsten Jahren sicherlich der Anteil, der selbst pflegebedürftigen Pflegepersonen in den privaten Haushalten. Wenn dann noch bei den unter 70-jährigen SPA zusätzliche berufliche Belastung hinzukommen, tanzt der Bär.

Hendrik Dohmeyer

Vergleich der Pflegebedürftigen der Jahre 2019 und 2023 nach Altersverteilung.

bis unter 15
15 bis unter 20
20 bis unter 25
25 bis unter 30
30 bis unter 35
35 bis unter 40
40 bis unter 45
45 bis unter 50
50 bis unter 55
55 bis unter 60
60 bis unter 65
65 bis unter 70
70 bis unter 75
75 bis unter 80
80 bis unter 85
85 bis unter 90
90 und älter
2019
162.984
52.741
42.810
39.865
42.777
43.412
46.719
63.634
106.433
151.940
179.522
226.989
269.295
501.478
816.133
711.934
556.562
2023
261.558
78.287
56.506
48.382
51.005
57.616
65.383
77.630
121.619
204.065
279.301
327.327
433.576
526.295
989.373
1.046.144
612.519
Sturktur 2019
4,1%
1,3%
1,1%
1,0%
1,1%
1,1%
1,2%
1,6%
2,7%
3,8%
4,5%
5,7%
6,7%
12,5%
20,3%
17,7%
13,9%
Sturktur 2023
5,0%
1,5%
1,1%
0,9%
1,0%
1,1%
1,2%
1,5%
2,3%
3,9%
5,3%
6,3%
8,3%
10,1%
18,9%
20,0%
11,7%
Wachstums-Index
199
159
105
70
63
108
131
72
47
113
183
145
201
16
70
154
33

Quelle: Geschäftsstatistik der Pflegekassen. Farblich markierte Index-Zellen über 140 zeigen überproportionales Wachstum an.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

1 × 2 =

Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann teilen Sie ihn gerne jetzt mit Ihren Freunden.

Hendrik Dohmeyer – §7a Pflegeberater
und Autor beim Pflege-Dschungel

Seit über 15 Jahren bin ich Sorgender und Pflegender Angehöriger (SPA).
Als Pflegeberater bin ich bundesweit für viele Familien tätig.
Täglich nutzen durchschnittlich 1.500 Ratsuchende meine Informationen und Leistungen hier vom Pflege-Dschungel.

Diesen Beitrag bitte gerne teilen!

Ihre Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Ihre Anmeldung war erfolgreich.
Mit dem Pflege-Dschungel Newsletter ab sofort nichts verpassen!
Pflegeleistungen 2024

Download nur für 2024

Pflegeleistungen 2025-27

Download 2024 bis 2027

Pflege-Dschungel Lampe

Pflege-Dschungel

TEUS – Transparenz und Erleichterung im Umgang mit der Sozialgesetzgebung UG haftungsbeschränkt

Friedrich Karl Straße 90
28205 Bremen

Hendrik Dohmeyer

Verantwortlich

Hendrik Dohmeyer - §7a Pflegeberater,
Autor beim Pflege-Dschungel

Rechtliches