Existiert tatsächlich der Karl-Lauterbach-Babyboomer-Sandwicheffekt?
Mit Jahrgang 1962 gehöre ich selbst zur Speerspitze der Boomer Generation. 😉
Es ließ mir gestern einfach keine Ruhe.
Kurzerhand habe ich mir daraufhin die aktuell veröffentlichen Daten zur Geschäft-Statistik der Pflegekassen angeschaut, um eine erste Antwort zu finden.
Was unzweifelhaft außer Frage steht, ist, dass wir 2023 kein explosives Wachstum bei der Pflegebedürftigkeit in Deutschland erfahren haben. Es ist eine seit vielen Jahren bekannte und konsequente Fortschreibung der demografischen Entwicklung unserer älter werdenden Gesellschaft. Siehe hierzu auch mein Blog-Beitrag „Überraschende Entwicklung der Pflegebedürftigkeit in Deutschland?„
Interessant im rnd-Interview von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist aber die Aussage:
„Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir einen Sandwicheffekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.“
Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen sagte laut einem Beitrag der Plattform EU-Schwerbehinderung zur Lauterbachschen Sandwitsch-Theorie folgendes Zitat:
Realistischerweise müsse derzeit pro Jahr mit einem Anstieg in der Größenordnung von 250.000 Pflegebedürftigen gerechnet werden. Dass das Plus nun höher ausgefallen ist, könnte nach Ansicht des Wissenschaftlers mit der Corona-Pandemie zu tun haben. „Es ist denkbar, dass Long-Covid und psychologische Spätfolgen der Pandemie zu einer höheren Zahl von Pflegefällen geführt haben. Beweise dafür gibt es aber nicht“. Den von Lauterbach angeführten „Sandwicheffekt“ mit Pflegebedürftigen in zwei Generationen hält Rothgang für unplausibel. „Zwar könne es einige Babyboomer geben, die bereits pflegebedürftig seien. Eine relevante Größenordnung von Pflegebedürftigen gebe es in dieser Altersgruppe aber nicht, so der Wissenschaftler.“
Kommen wir zur eigenen Analyse der aktuell verfügbaren Daten.
Bei der soziodemografischen Analyse vergleiche ich in der Grafik „Existiert ein Boomer-Effekt?“ die Struktur der altersbedingten Pflegebedürftigkeit. Auf Basis der Daten der Geschäftstatistik der Pflegekassen aus den Jahren 2019 und 2023 können wir die prozentuale Verteilung der Pflegebedürftigen in fünf Jahres Abständen darstellen. Alle Berechnungen finden Sie unten auf dieser Seite in tabellarischer Form.
Und in der Tat können wir hier einen ersten Anstieg der verstärkten Ausprägung zusätzlicher Pflegebedürftiger in der Kohorte der Geburtenjahrgänge 1946 bis 1964 feststellen, die klassisch als Babyboomer-Genration bezeichnet wird. Bei den im Jahr 2023 60- bis 75-Jährigen zeichnet sich ein stärkeres Wachstum gegenüber der Verteilungsstruktur von 2019 ab, als dies in anderen Alterssegmente stattgefunden hat. Dies wird unten anhand der indexierten Wachstumssteigerungen ebenfalls deutlich.
Gleichzeitig verschiebt sich die Spitze des Eisberges leicht in die Jahrgänge 85 bis 89 Jahre.
Einen weiteren sehr deutlichen Anstieg können wir im Vergleichszeitraum bei den Kindern bis unter 15 Jahren feststellen. Allein in diesem Segment kamen fast 100.000 pflegebedürftige Kinder in der Statistik hinzu. Und auch die etwas älteren Jugendlichen bis unter 20 Jahre verzeichnen ein starkes Wachstum. Auch hier muss die Politik ein verstärktes Auge auf die Bedürfnisse der betroffenen Familien haben.
Wozu ist der Aufschlag des Gesundheitsministers gut?
Wenn man der ganzen Aufregung, die mit dem Interview erzeugt wurde, etwas Positives abgewinnen möchte, dann ebendiese dringend notwendig Aufmerksamkeit, die nun medial auf das gesellschaftspolitisch so essenzielle Thema für die nächste Legislaturperiode gelenkt wurde.
Sehr, sehr schade aber, dass mit dem Eingeständnis der Handlungsunfähigkeit bis zum Ende der Ampel so viel wichtige Zeit verschenkt wurde ;-(.
Zitat Karl Lauterbach:
„Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein. Dafür liegen die Ansichten zu weit auseinander. Im Übrigen würde dafür auch die verbleibende Zeit nicht reichen. Die Arbeit der Arbeitsgruppe ist aber eine gute Grundlage für eine große Pflegereform in der nächsten Wahlperiode. Dann muss sie aber auch kommen.“
Mein Fazit
Vorab: ich bin kein Wissenschaftler. Und auch kein Mathematik- oder Statistik-Experte. Als Pflegeberater mit mehreren Tausend Beratungseinsätze in den vergangenen Jahren registriere ich im Segment der Boomer-Generation tatsächlich einen wachsenden Anteil bei meinen Kunden. Das kann Zufall sein und auch dadurch, dass ich zu 90 % digitale Beratungseinsätze durchführe, begründet sein.
Die statistisch dokumentierte starke Ausprägung im Alterssegment von 60 bis 75 Jahren und meine persönlichen Erfahrungen signalisieren mir bereits, dass wir als Boomer-Generation schon jetzt die Treiber sind. Wir werden den Anstieg der Pflegebedürftigkeit in den kommenden Jahren erheblich mitverursachen. Der damit verbundene Bedarf wird ebenfalls nicht unwesentlich steigen.
Dieser Trend ist jedoch auch aufgrund eines weiteren Aspektes von den pflegepolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen. Wie ich selbst seit über 16 Jahren, betreuen, versorgen und pflegen viele der Boomer Generationen tatsächlich ihre Eltern. Somit wächst in den nächsten Jahren sicherlich der Anteil, der selbst pflegebedürftigen Pflegepersonen in den privaten Haushalten. Wenn dann noch bei den unter 70-jährigen SPA zusätzliche berufliche Belastung hinzukommen, tanzt der Bär.
Hendrik Dohmeyer
Vergleich der Pflegebedürftigen der Jahre 2019 und 2023 nach Altersverteilung.
Quelle: Geschäftsstatistik der Pflegekassen. Farblich markierte Index-Zellen über 140 zeigen überproportionales Wachstum an.
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