2025: Einzelhelfer/innen für die Nachbarschaftshilfe auch in Bremen möglich?

Mai 22, 2025 | Pflegepolitik, Pflegeversicherung, SGB XI, Statistik | 0 Kommentare

Vorab

  • Vor einem Jahr hatten nur noch die drei „B-Länder“ Baden-Württemberg, Brandenburg und Bremen keine niedrigschwellige Lösung für Einzelhelfer/innen im Rahmen des Entlastungsbetrages (§45 SGB XI).
  • Im Dezember 2024 optimierte dann Sozialminister Manne Lucha die Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) für BaWü. Nach einer vierjährigen Erforschung der optimalen Unterstützungsleistung wurde mit der „Anerkennungsfiktion“ ein bürokratiearmes Verfahren für die Nutzung der Einzelhelfer/innen eingeführt.
  • In Brandenburg erklärte Sozialministerin Britta Müller Ende März im Landtag: „Wir werden das Leben vieler pflegebedürftiger Menschen spürbar erleichtern.“ Damit werden 2025 auch in Brandenburg Einzelpersonen als Nachbarschaftshelferinnen und Nachbarschaftshelfer als „alltagsunterstützende Angebote“ anerkannt. 
  • Bleibt: Meine schöne Heimatstadt Bremen!

1. Nachbarschaftshilfe in Bremen zwischen Anspruch und Wirklichkeit – traditionelles System bedarf dringend einer zeitgemäßen Ergänzung.

Mit unserer SPA-Pflegeberatung betreuen wir viele Familien in Bremen. Aktuell bekommen wir in unseren Beratungsgesprächen wieder die frustrierten Anfragen, ob ihre angesparten 1.500 € aus dem Entlastungsbetrag Ende Juni verfallen müssen.

Ganzjährig bekommen wir das Feedback unserer Kunden, dass die Nachfrage nach Alltagsassistenz-Unterstützung leider oft negativ beantwortet wird und maximal ein Eintrag auf der Warteliste möglich ist. Bei der Versorgung im ambulanten Pflegebereich machte die Kampagne „Bei Anruf Sorry“ letztes Jahr auf einen vergleichbaren Notstand bundesweit aufmerksam.

Auch in persönlichen Gesprächen wird mir von verschiedenen Stellen die unbefriedigende Situation bestätigt. Als Pflegeberater nach § 7a SGB XI habe ich in meiner Fortbildung verinnerlicht: Pflegeberatung bedeutet nicht nur, individuell zu helfen, sondern auch Verantwortung für die pflegerische Infrastruktur unserer Städte und Gemeinden zu übernehmen. Im Rahmen des Care-Managements gehört es daher zu unseren Aufgaben, auf Missstände und Bedarfslücken aufmerksam zu machen.

In diesem Sinne habe ich heute der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, Frau Senatorin Claudia Bernhard, einen mit der Anregung zur Einführung der Einzelhelfer/innen auch in Bremen geschrieben.

Worum geht es?

Eine große Versorgungslücke zeigt sich aktuell deutlich im gesamten Bundesland Bremen: Etwa 46.000 der über 51.000 Menschen mit Pflegegrad werden nach meinen Prognosen in Bremen und Bremerhaven im Jahr 2025 einen Anspruch auf Unterstützung durch Nachbarschaftshelfer*innen gemäß § 45a SGB XI haben.

Dies sind alle Personen mit Pflegegrad 1 bis 5, die in häuslicher Umgebung umsorgt und gepflegt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Familien nur Pflegegeld beziehen, die Kombinationsleistung nutzen oder die finanziellen Mittel komplett für die Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst verwenden.

Pflegestatistik 2023  für Bremen mit Prognose 2025

Doch während der Bedarf rasant wächst, bleibt das Angebot der in Bremen notwendigen begleiteten ehrenamtlichen Helfer/innen weit dahinter zurück. Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit geht immer weiter auseinander.

Bremens Tradition der Nachbarschaftshilfe – Zwei Wege der Unterstützung

Bremen kann auf eine lange Tradition im Bereich ehrenamtlicher Hilfe zurückblicken. Über Jahrzehnte hinweg haben engagierte Bürgerinnen und Bürger Nachbarn und Pflegebedürftige unterstützt – ein Fundament, auf das die Stadt zu Recht stolz sein darf. Auch wir als Familie hatten das Glück, mit dieser Unterstützung die Pflegesituation für meine Mutter zu verbessern

Organisiert wird ein Großteil dieser Hilfe durch die vier großen Wohlfahrtsverbände: Deutsche Rote Kreuz (DRK), Arbeiterwohlfahrt (AWO), dem Paritätischen Dienst und vom Caritasverband. Deren 17 Dienstleistungszentren (DLZ) im Stadtgebiet Bremens (keine in Bremerhaven) spielen hierbei eine zentrale Rolle.

Ein Blick in den Tätigkeitsbericht 2023 der Dienstleistungszentren zeichnet jedoch ein deutlich kritisches Bild: Im Jahr 2014 wurden noch insgesamt 731.000 Stunden an Unterstützung von den Ehrenamtlichen der Dienstleistungszentren erbracht. Bis 2023 sank diese Zahl auf nur noch 422.000 Stunden. Das entspricht einem Rückgang von über 42 % innerhalb von neun Jahren – ein erheblicher Verlust an ehrenamtlicher Unterstützung bei gleichzeitig steigendem Bedarf (2017 bis 2025 + 100 %).

Innerhalb der Strukturen der Dienstleistungszentren gibt es heute zwei grundlegende Formen der Unterstützung, die Potenzial für Verwechselung haben:

  • Die Nachbarschaftshilfe (NBH) basiert auf privat zu finanzierenden Verträgen. Die Betroffenen tragen die Kosten selbst, ohne Unterstützung durch die Pflegekasse. Diese Form richtet sich hauptsächlich an Menschen, die ergänzende Hilfen wünschen oder benötigen, die nicht über die gesetzliche Pflegeversicherung abgedeckt sind.
  • Die Alltagsassistenz dagegen ist eine nach Landesrecht anerkannte Unterstützungsleistung für pflegebedürftige Menschen ab Pflegegrad 1. Die Kosten können über den Entlastungsbetrag nach § 45a SGB XI bei der Pflegekasse abgerechnet werden, wodurch Betroffene finanziell entlastet werden.

78 % aller geschlossenen Verträge entfallen auf die Alltagsassistenz, während lediglich 22 % auf die klassische Nachbarschaftshilfe. Analog dieser Verteilung gewichte ich bei der weiteren Analyse auch die Unterstützungspotentiale von ehrenamtlichen Alltagsbegleiter/innen.

Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage

Die nachfolgende Grafik zeigt das Auseinanderklaffen von sinkendem Angebot und stark steigender Nachfrage sehr deutlich:

NBH Bremen - Angebot und Nachfrage

Lesebeispiel: Im Jahr 2023 hatten fast 42.000 Menschen mit Pflegegrad 1–5 in häuslicher Pflege einen Anspruch auf eine Unterstützungsleistung nach § 45 SGB XI in Höhe von 125 € (heute 131 €) monatlich.
In diesem Jahr unterstützten 2.113 der über die DLZ organisierten Ehrenamtlichen diese anspruchsberechtigten Familien. Die Umrechnung der insgesamt 2.709 Personen erfolgt anhand der im Bericht ausgewiesenen Verteilung von 78 % für die Alltagsbegleitung. Mit diesem Wert wurden dann für die Vergleichbarkeit alle Jahrespotentiale gewichtet.
Interpretation: Hatten 2017 noch ca. 12 % der Familien die Chance einer Versorgung über das Bremer System mit Alltagsassistenz, sind dies rein rechnerisch 2025 nur noch 4,5 %. Über 95 % können so heute nicht versorgt werden.

Das Bremer Modell der Nachbarschaftshilfe und Alltagsunterstützung geht im Grundsatz davon aus, dass pflegebedürftige Menschen keine eigenen sozialen Ressourcen mehr haben. Das heißt: Es stehen keine Nachbarn, Freunde oder Bekannte zur Verfügung, die regelmäßig nachbarschaftliche Hilfe leisten könnten. Daher basiert das Angebot hauptsächlich darauf, dass fremde Personen als Alltagsassistent*innen in die Haushalte kommen, um dort Unterstützung zu leisten.

Aufgrund der Einschränkung der Bremer Verordnung nach § 3 Voraussetzung der Anerkennung, Absatz (3) „Eine Anerkennung von Einzelpersonen ist nicht möglich.“ können vorhandene eigene soziale Ressourcen der Betroffenen nicht über den Entlastungsbetrag genutzt werden.  

Erkenntnisse aus dem DLZ Jahresbericht 2023

Die DLZ werben die ehrenamtlichen Helfer an, schulen und begleiten sie. Dann  vermitteln sie die Alltagsassistenten per Vertrag an die nachfragenden Familien und stellen die 12 Abrechnungsformulare für die Kostenerstattung durch die Pflegekasse zur Verfügung. Hierfür bekommen sie von den nachfragenden Familien aktuell jährlich bis zu 420 € als sogenannte „Regiekostenpauschale“ pro vermittelte ehrenamtliche Person.

Diese monatlichen 35 € reduzieren das Budget von 131 € des Entlastungsbetrages. Mit den verbleibenden 96 € können dann ca. 10 Stunden im Monat bei einem festgelegten Stundensatz von 9,50 € genutzt werden. Zum Vergleich: in Niedersachsen bekommen die Einzelhelfer maximal 10,90 € direkt von den Familien (85 % vom aktuellen Mindestlohn von 12,82 €) und diese können damit 12 Stunden im Monat für die Unterstützung einplanen.

Nach Aussage der DLZ bestanden im Jahr 2023 in 41.433 Monaten Verträge mit Kunden, von denen 78 % als Alltagsassistenzverträge geführt wurden. Damit hätten die Versicherten mit der Zahlung der Regiekostenpauschale über den Entlastungsbetrag ca. 1 Mio. € zur Finanzierung der DLZ beigetragen (41.433 * 0,78 * 33 € = 1.066.485 €).

Anhand der 2023 geleisteten Gesamtstunden der Ehrenamtlichen errechnet sich eine durchschnittliche Betreuungsleistung von ca. 13 Stunden je Monat (422.176 / 12 / 2.709 = 12.98). Von jeder ehrenamtlichen Person wird somit ca. eine Familie durchschnittlich pro Monat versorgt.

Diese begrenzten Ressourcen verschärfen die Versorgungssituation im Vergleich zu andern Bundesländern erheblich. Viele unserer Beratungskunden außerhalb Bremens, gerade in den höheren Pflegegraden, nutzen wöchentlich drei bis vier oder mehr Unterstützer/innen über den Entlastungsbetrag. Dies ist möglich, weil dort die Einzelhelfer/innen zusätzlich zum Entlastungsbetrag über die Umwandlung von maximal 40 % des Sachleistungsbudgets finanziert werden können. Und: im privat organisiertem Umfeld stehen bei flexibler und unbürokratischer Lösung (Stichwort „Anerkennungsfiktion“ potenziell ausreichend mehr Unterstützerinnen zur Verfügung.    

Maximale Budgets für die NBH/Einzelhelfer

Pflegegrad 1
Pflegegrad 2
Pflegegrad 3
Pflegegrad 4
Pflegegrad 5
Entlastungsbetrag
131 €
131 €
131 €
131 €
131 €
max. 40 % Umwandlung von Sachleistung
-
318 €
599 €
744 €
920 €
Gesamt-Budget für NBH/ Einzelhelfer
131 €
449 €
730 €
875 €
1.051 €
Max. Unterstützung pro Woche in Stunden
3
12
19
23
28
max. 40 % Reduzierung Pflegegeld
-
139 €
240 €
320 €
396 €

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Lesebeispiel: Beim Pflegegrad 5 können Betroffene bis zu 920 € zusätzlich zur Aufstockung des Entlastungsbetrages von ihrer Pflegekasse umwandeln lassen. Mit einem monatlichen Gesamtbudget von 1.051 € können dann bei einem Stundensatz von 9,50 € insgesamt 28 Stunden Assistenzleistung „eingekauft“ werden. Bei einem für ehrenamtliche Helfer steuerfreien Einkommen von monatlich ca. 250 € benötigen die Familien vier Einzelhelfer/innen. Zu berücksichtigen ist, dass das Pflegegeld bei diesem Verfahren um 40 % reduziert wird.   

Probleme sind bekannt

In seinem „Landespflegebericht Bremen 2023“ weist das Team um Prof. Dr. Rothgang auf den Seiten 149 bis 150 auf die strukturellen Probleme (insbesondere für Bremerhaven) – es „… klafft eine Lücke zwischen den Anfragen und dem vorhandenen Angebot der verschiedenen Einrichtungen und Dienstleister, die nicht gedeckt werden können.“ Auch der Landespflegebericht empfiehlt:

Entwicklungspotenzial hätte ein Organisations- und Finanzierungsmodell, das die nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag nach § 45a SGB XI in Form einer bezahlten ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfe und Alltagsassistenz ausbaut.

„Anerkennungsfiktion“ als „Blaupause“ auch für Bremen?

Ein bedeutender Fortschritt der überarbeiteten UstA-VO für Baden-Württemberg ist die Einführung der sogenannten Anerkennungsfiktion. Dieses vereinfachte Verfahren erlaubt es, dass neben den bereits bestehenden anerkannten Unterstützungsangeboten seit 18. Dezember 2024 auch Einzelbetreuungen durch ehrenamtlich engagierte Personen möglich sind. Zuvor waren dort meist solche Angebote auch an Trägerstrukturen oder professionelle Dienste gebunden.

Um den Zugang zu den Leistungen zu erleichtern, wurde die Anerkennung ehrenamtlicher Einzelhelferinnen und Einzelhelfer durch die sogenannte Anerkennungsfiktion vereinfacht.

  • keine Schulungskurse notwendig (aber empfohlen)
  • kein polizeiliches Führungszeugnis
  • kein Ersthilfekurs

Dieses bewusst schlanke Verfahren reduziert den Aufwand für alle Beteiligten und ermöglicht eine flexiblere, schnellere Nutzung der Unterstützungsleistungen. Pflegebedürftige können so den Entlastungsbetrag der Pflegeversicherung leichter für Einzelhelferinnen und -helfer einsetzen.

Aufgrund unserer Erfahrungen ist eine solche niedrigschwellige Lösung insbesondere überall dort sehr hilfreich, wo „fremde“ Personen von den Betroffenen nicht gewünscht sind oder diese mit den vorhanden Einschränkungen oft Probleme haben. Dies sind z. B.

  • kognitiv beeinträchtigte Menschen wie u. a. demenziell erkrankte Personen
  • traumatisch belastete Menschen
  • Kinder und Jugendliche mit z. B. ADHS

Bei vielen unserer Beratungskunden mit Migrationshintergrund ist oft die Unterstützung durch familienfremde Personen ebenfalls nicht erwünscht.

Wie kann die Situation auch in Bremen 2025 entschärft und optimiert werden?

Eigentlich ganz einfach. Im ersten Schritt muss nur ein einziges Wort aus der aktuellen Verordnung gestrichen werden:

Die Lösung für Bremen

Im zweiten Schritt muss dann eine Regelung formuliert werden, die eine einfache und zielgerichtete Nutzung der von den Pflegekassen zur Verfügung gestellten Unterstützungsmöglichkeiten (jährlich 1.572 € Entlastungsbetrag plus mögliche ergänzende Sachleistungsumwandlung) für die Bremer Familien ermöglicht.
Nützliche Informationen hierfür können die Forschungsergebnisse der „Modellprojekt Einzelhelfer“ sowie die exemplarische Umsetzungsverordnung für BaWü. sein. 

Wichtig: das Einzelhelfer/innen Angebot soll eine Ergänzung zu der bestehenden und bewährten Lösung über die DLZ sein – keine ersetzende Alternative.

Hendrik Dohmeyer
Hendrik Dohmeyer – §7a Pflegeberater
und Autor beim Pflege-Dschungel

Bis 2024 insgesamt 18 Jahren als Sorgender und Pflegender Angehöriger (SPA) bei den eigenen Eltern. Ab 2025 als SorgenderErsatz Angehöriger (SEA) bei anderen Familien im Einsatz.
Als Pflegeberater bin ich bundesweit für viele Familien tätig.
Täglich nutzen durchschnittlich 1.500 Ratsuchende meine Informationen und Leistungen hier vom Pflege-Dschungel.

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