Warum die 1,8 Milliarden ein reines Rechenkunststück sind
Gestern konnte man es fast überall lesen: Pflegegrad 1 soll gestrichen werden und schwupps, die deutsche Pflegeversicherung ist gerettet. Tagesschau, Heute-Journal, Bild und unzählige andere Medien haben die Zahl von 1,8 Milliarden Euro Einsparung verbreitet. Klingt nach einem Befreiungsschlag. Aber ist das wirklich so einfach?
Die Milchmädchenrechnung hinter den 1,8 Milliarden
Die Zahl stammt laut BILD aus einer Berechnung des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). Wirtschaftsforschung? Auf meine telefonische Nachfrage erklärte die Pressestelle des RWI: Grundlage der Antwort auf die BILD-Anfrage war lediglich eine theoretische Multiplikation.
Man nahm das maximal mögliche Budget für den Entlastungsbetrag (1.572 € pro Jahr) plus die Pauschale für Pflegehilfsmittel (42 € pro Monat) und rechnete das Ganze mit den rund 860.000 Anspruchsberechtigten hoch. Fertig.
Das Ergebnis: 1,8 Milliarden Euro.
Die Realität: Ein Rechenexempel ohne Bezug zum tatsächlichen Ausgabenniveau.
Hätten die Redakteure nach dem Einsparungspotenzial durch Streichung der Tagespflege gefragt, hätten wir mit 48.430.915.428 € Kostenersparnis nicht nur die Pflegeversicherung, sondern gleich noch die komplette GKV gerettet.
Der Blick in die Praxis
Denn:
- Der Entlastungsbetrag wird nur von weniger als der Hälfte in Anspruch genommen (Nutzungsquote PG 1-5 lag 2024 bei nur 47 %).
- Die Leistungen werden nie komplett bei allen das ganze Jahr in Anspruch genommen.
- PG1-Leistungen sind für viele deutlich weniger nützlich als bei höheren Pflegegraden.
- Das Einsparpotenzial dürfte maximal bei 700 Millionen Euro – und nach meiner Einschätzung vermutlich sogar eher unter 500 Millionen Euro liegen.
Ein Tropfen auf den heißen Stein
Zur Einordnung: Die Pflegeversicherung wird im kommenden Jahr nach meiner Prognose über 75 Milliarden Euro ausgeben müssen. Selbst im optimistischsten Szenario brächte eine Streichung von Pflegegrad 1 also weniger als 1 % Entlastung.
Das mag ein symbolischer Schritt sein – aber sicher keine Rettung der Pflegeversicherung. Im Gegenteil: Eine solche Symbolpolitik könnte am Ende fast eine Million neue Wutbürger hervorbringen, über die sich bestimmte politische Kreise trefflich freuen würden.
Was wir wirklich benötigen
Statt einfache Rechnungen mit großer Schlagzeile braucht es:
- Ehrlichkeit in der Debatte um die Finanzierung.
- Zielgerichtete Reformen, die Prävention und Entlastung stärken.
- Investitionen in Strukturen, damit Menschen Pflegegrad 1‑Leistungen überhaupt sinnvoll nutzen können.
Denn wenn wir den Einstieg in die Unterstützung kappen, gefährden wir genau das, was die Reform 2017 eigentlich bewirken sollte: so früh wie möglich helfen, um Verschlechterungen länger zu vermeiden und signifikante Kostensteigerungen der höheren Pflegegrade zu verhindern.
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